Vakulinskaia A. Einleitung. „Vernünftiger Glaube und gläubige Vernunft in der Philosophie von Iwan Iljin“// Iljin I.A. Philosophie der Religion. Die Axiome der religiösen Erfahrung. Kommentierte Ausgabe / Hrsg. Andorján Kovács. – Hagia Sophia: Philosophia Eurasia, 2025. S. 17-29.Die Axiome der religiösen Erfahrung ist das grundlegende Werk des russischen Denkers I. A. Iljin (1883-1954), das er kurz vor seinem Tod, der am 21. Dezember 1954 erfolgte, fertigstellte und veröffentlichte. Im Vor feld seines Todes bedauerte der Philosoph, dass viele der von ihm begonnenen Bücher aufgrund der schwierigen Lebensumstände, in denen er sich befand, nie vollendet wurden: drei Revolutionen in Russland, erzwungene Ausweisung aus dem Land mit Verbot der Rückkehr in die Heimat, „Revolution“ in Deutschland mit anschlie ßendem Verbot der Arbeit russischer Wissenschaftler in diesem Land, erzwungene Flucht in die Schweiz, wo er sein Leben neu aufbauen musste, indem er mit Schreiben und Vorträgen Geld verdiente. Es ist jedoch erwähnenswert, dass das Buch Die Axiome der religiösen Er fahrung trotz alledem 1951 im Wesentlichen fertiggestellt und heraus gegeben wurde (veröffentlicht 1953
[1]), und dass die Arbeit an dieser Studie 1919 in Moskau begonnen wurde, als der Bürgerkrieg bereits im Lande tobte. Was veranlasste den Philosophen, eine scheinbar weit entfernte Frage aufzugreifen und eine groß angelegte Studie in Angriff zu nehmen, die in dem in den Archiven aufbewahrten Entwurf den Titel „Philosophie der Religion“ (der für die vorliegende Übersetzung beibehalten wurde) trägt?
Tragische Zeiten bringen uns immer dazu, über das Ewige und Un vergängliche nachzudenken, über das, was nach I. A. Iljin das Kriterium des menschlichen Lebens auf der Erde ist, das heißt, wofür es sich zu leben und zu sterben lohnt. Schon in der Emigration stellten russische Denker fest, dass sie in den nachrevolutionären Jahren in Russland eine kontinuierliche geistige Arbeit hatten, die den bereits in Europa ansäs sigen russischen Flüchtlingen vorenthalten wurde. Erwähnenswert ist die Ende 1922 in Berlin eröffnete Religiös-Philosophische Akademie, ein Projekt von N. A. Berdjaew (das ihrem Gründer nach 1924 nach Paris übersiedelte), an deren Aktivitäten anfangs neben Iljin auch S. L. Frank, B. P. Wischeslawzew, L. P. Karsawin, F. A. Stepun und ande re teilnahmen. Im Rahmen von Kursen und Treffen an der Akademie wurden Fragen der Religion und Religiosität lebhaft diskutiert. Die Re ligiös-Philosophische Akademie knüpfte an die Diskussionen an, die frühere russische Denker, die aus dem Land vertrieben worden waren, in den Mauern der Freien Akademie für geistige Kultur (1919-1922) in Moskau geführt hatten. Im Großen und Ganzen war der Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland bis zu dem berüchtigten Ereignis, das als „Philosophendampfer“ bezeichnet wurde, eine Zeit der blü henden, aber bereits dekadenten, von der Sphäre des Geistes losgelös ten und im Niedergang befindlichen Kultur. In dieser Zeit entstanden einzigartige philosophische Konzepte, und viele Werke nicht nur der Klassiker, sondern auch von Zeitgenossen wurden recht schnell aus europäischen Sprachen ins Russische übersetzt. Diese Zeit wurde zwar in der Literatur als „Silbernes Zeitalter“ bezeichnet, doch im Bereich der Philosophie könnte man sie durchaus als „Goldenes Zeitalter“ des russischen philosophischen Denkens bezeichnen. Zu Beginn des Jahr hunderts waren die intellektuellen Eliten sowohl in Russland als auch im Westen voll von geistiger Suche und Versuchen, einen Ausweg aus der Krise zu finden, in der sich die europäische und organisch ver wandte russische Philosophie befanden. Positivismus und Materialis mus, die im Zusammenhang mit der Abkehr der gebildeten Schichten vom religiösen Glauben und den Erfolgen auf dem Gebiet der Natur wissenschaften in die Sphäre des humanitären Wissens eindrangen, wurden zunehmend von scharfer Kritik und Ablehnung des philoso phischen Fideismus und Idealismus begleitet. Ihnen wurde faktisch die Existenzberechtigung abgesprochen, ganz zu schweigen von der damit verbundenen Sphäre der Religion und der Theologie, die zuneh mend aus der Weltanschauung, aus der Erforschung der Wirklichkeit ausgeschlossen und faktisch aus der Klammer der wissenschaftlichen Denkweise herausgenommen wurden. Der Bruch mit dem Idealismus, der sich seit der Scholastik auf rein abstrakte Argumentationstheorien und die Zusammenstellung verschiedener Tabellen und Schemata re duziert hatte, und die Reduzierung der Theorie auf die Identifizierung und das Verständnis von Ursache-Wirkungs-Beziehungen auf der Grundlage empirischer Fakten ließen jedoch die Kluft zwischen rea lem und geistigem Leben immer größer werden. In diesem Bruch und der Ablehnung des geistigen Lebens, die die aus Russland vertriebe nen Philosophen als „Krise der geistigen Kultur“ bezeichneten, wurde schließlich die Ursache für all die Katastrophen gesehen, die Russland und die ganze Welt im 20. Jahrhundert erschütterten.
Schon etwas früher tauchten in Russland interessante philosophi sche und religiöse Konzepte auf, und die Zeit des frühen 20. Jahrhun derts wurde in der Forschungsliteratur als philosophisch-religiöse Re naissance bezeichnet. Als Begründer dieser Denkströmung, die mit der Rückkehr der Religion in den Kontext der Philosophie verbunden ist, wird gewöhnlich W. S. Solowjew angesehen, dessen Ideen in der einen oder anderen Form einen ziemlich starken Einfluss auf russische Denker hatten, insbesondere auf E. N. Trubezkoi, S. S. Trubezkoi, S. N. Bulgakow, P. A. Florenski, W. F. Ern, W. P. Swentsitski, N. A. Berdjaew, L. I. Schestow, S. L. Frank, W. W. Rosanow, [und] Schrift steller [wie] D. I. Mereschkowski und S. N. Hippius. Die Atmosphäre [wörtl.: Der Geschmack] des Silbernen Zeitalters prägte jedoch auch die geistige Suche der russischen Denker. Das Konzept eines „neuen religiösen Bewusstseins“, der Wunsch, das Christentum neu zu in terpretieren und die Kirche zu erneuern, wurde von den russischen Philosophen der Moderne oft mit der deutschen Mystik, der Theoso phie, der Anthroposophie, der Hinwendung zu sektiererischen Ideen (insbesondere zum Chlystentum), mit ihren erotischen Untertönen und der Einbeziehung des „fleischlichen Menschen“ in den religiö sen Kontext verbunden. Vor dem Hintergrund dieser geistigen Suche russischer religiöser Denker wirkte Iwan Iljin, der als orthodoxester christlicher Denker weit entfernt von dieser Art von Mystizismus war und seine akademische Ausbildung an der juristischen Fakultät der Kaiserlichen Moskauer Universität erhielt, wie eine „weiße Krähe“. Besuche in philosophischen Zirkeln und Versammlungen, bei denen der junge Denker A. Bely, Wjatscheslaw Iwanow, N. A. Berdjaew, W. F. Ern, S. N. Bulgakow kennenlernte, riefen bei Iljin Empörung hervor, und viele seiner Zeitgenossen zählte der Philosoph zu denen, derent wegen die Philosophie weiterhin in der Krise steckt.
Ein charakteristisches Merkmal, das Iljin von vielen russischen religiösen Denkern unterscheidet, ist die Betonung des psychologi schen Aspekts und seiner Rolle im geistigen Leben des Individuums und im Prozess der Erkenntnis. Der Durchbruch, den die Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte, konnte von den Vertretern der sozial-humanitären Wissenschaften nicht unbemerkt bleiben. In Russland gab es sogar eine ganze Richtung in der Soziologie und Rechtswissenschaft (Rechtsphilosophie), die sich mit der Entwicklung der psychologischen Theorie des Rechtsbewusstseins beschäftigte (L. I. Petraschitski). Iwan Iljin gehörte zur Schule der wiederbelebten, vor allem im Rahmen der Moskauer Rechtsschule vertretenen Naturrechtstheorie, die von seinem Lehrer P. I. Nowgorodzew geleitet wurde. Die Schule von Nowgorodzew zeichnete sich durch ein gu tes Niveau der historischen und philosophischen Ausbildung aus, so dass sich die Studien der Juristen dieser Schule in wissenschaftlichem Niveau und Darstellungsweise kaum von denen der Absolventen der historischen und philologischen (philosophischen) Fakultät unter schieden. Es ist erwähnenswert, dass der damals junge Iljin während seines Magisterstudiums seinen Lebensunterhalt mit dem Verfassen von Rezensionen und Artikeln, mit Übersetzungen von Büchern wie Der Anarchismus von P. Eltzbacher und Über soziale Differenzierung von G. Simmel aus dem Deutschen ins Russische sowie mit Nachhil feunterricht und Lehrtätigkeit verdiente. In diesem Zusammenhang verfolgte der Philosoph aufmerksam alle Neuerungen in Recht, Philo sophie, Psychologie und Soziologie (Sozialphilosophie/Psychologie). Schon früh zeigte sich Iljins Interesse an geistigen Fragen und eine deutliche Neigung zu einem religiös-philosophischen Verständnis all dieser Disziplinen, die er in seinem umfangreichen philosophischen Schaffen weiterentwickelte.
So kann man in seinem frühen Artikel „Über die Höflichkeit“ (1912) Spuren des Einflusses von G. Simmels Konzepten erkennen, oder vielmehr einen Versuch, in Analogie zu dem Artikel „Die Gesel ligkeit“ des deutschen Denkers eine solche Form der Kommunikati on wie die „Höflichkeit“ durch das Lust-Unlust-Prinzip von S. Freud zu betrachten, das er in seiner Publikation „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“ dargelegt hat. Laut einer Aussage von Iljins Zeitgenossen besuchte der Philosoph Freud sogar einmal persönlich, als er 1914 auf einer Geschäftsreise in Wien war. Der Artikel „Über die Höflichkeit“ war der Versuch, ein interessantes sozialpsychologisches Konzept zu entwerfen, das die Regeln der Höf lichkeit als soziale Formen der Mindestliebe (Empathie) erklärt, die wir unserem Gesprächspartner als Nachbarn entgegenbringen sollten. Iljin kam jedoch schon früh zu dem Schluss, dass die rein äußerliche, formale Höflichkeit, wenn sie nicht von einem wirklich liebevollen Gefühl für den Gesprächspartner genährt wird, mit Interesse an ihm und unter Berücksichtigung seiner Individualität, zu einer leeren Form wird, die für alle gleich ist, ja sogar zur Vulgarität wird. In diesem Zu sammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Kapitel „Der religiöse Sinn der Vulgarität“ in den Axiomen ursprünglich als Fort setzung des früheren Artikels „Über die Höflichkeit“ konzipiert und ausgeführt wurde. Mit Vulgarität, nicht im abgedroschenen Sinne des Wortes, meinte der Philosoph jenen Zustand, in dem der Mensch sich bewusst von Gott entfernt und das Göttliche nicht mehr wahrnimmt, die Möglichkeit der Existenz von etwas Vollkommenerem ignoriert und ablehnt. Wir können sagen, dass das Abgleiten in den Zustand der Vulgarität im direkten Zusammenhang mit dem Verlust des sakralen Kerns im geistigen Leben des Menschen steht. Anders ausgedrückt: Wenn ein gläubiger Mensch dazu neigt, Wunder und Geheimnisse selbst in den einfachen Dingen der ihn umgebenden Welt zu entde cken, leugnet ein religiös toter Mensch diese Spuren des Göttlichen in der Welt, indem er eine bequeme Erklärung für sie findet.
Bei der Lektüre der frühen Artikel-Reden des Philosophen
[2], die später Teil der Sammlung Die religiöse Bedeutung der Philosophie: drei Reden 1914 – 1923
[3] wurden (auf dieses Buch bezieht sich Iljin in den Axiomen wiederholt), erinnert man sich nicht nur an den frühen He gel, dem der Philosoph seine grundlegende Studie Die Philosophie He gels als Lehre von der Konkretheit Gottes und des Menschen widmete, sondern auch an das Werk von W. James Die Vielfalt religiöser Erfah rung. Es ist anzunehmen, dass sich der Leser beim Blick auf den Titel des Buches des russischen Denkers, dem dieses Vorwort gewidmet ist, bereits an dieses Werk von James erinnert hat. Die Bekanntschaft mit der „Religionspsychologie“ des amerikanischen Forschers fand höchstwahrscheinlich in Russland statt, denn 1910 war James‘ Buch bereits ins Russische übersetzt worden. Es sei daran erinnert, dass die Axiome im Projekt den Titel Philosophie der Religion trugen, und es scheint, dass Iljin, der sich einst für Simmels Ansatz zur Geselligkeit interessierte, die „Höflichkeit“ auf recht originelle Weise analysierte. So unternimmt der russische Philosoph, der sich für den Forschungs ansatz von James interessiert, den kolossalen Versuch, eine philo sophische Analyse der religiösen Erfahrung vorzunehmen und ihre universellen Axiome abzuleiten. Abgesehen von einer allgemeinen Fragestellung, die mit einer bedachten Reaktion auf die Dominanz des positivistischen Ansatzes in den Geisteswissenschaften verbunden ist, den James als „medizinischen Materialismus“ bezeichnet, teilen Iljin und der amerikanische Psychologe die Ansicht, dass die Vielfalt der Formen religiöser Erfahrung keineswegs ein Beweis für das Scheitern des religiösen Glaubens als solchem ist. Diese These ist angesichts des gegenwärtigen Zustands des religiösen Bewusstseins heute äußerst re levant.
Der Schlüsselbegriff, den Iljin hier verwendet, ist der Begriff „Reli giosität“, der nicht nur auf den Seiten der Axiome auftaucht, sondern auch in seinen Werken wie
Über das Wesen des Rechtsbewusstseins [4],
Der Weg zur Evidenz und
Der Weg der geistigen Erneuerung. Seiner Ansicht nach kann „Religiosität“ nicht auf den Begriff „Religion“ im traditionellen Sinne reduziert werden. Religiosität kann als das Ergeb nis der Interaktion mit dem Gegenstand betrachtet werden, der bei einer Person ein Gefühl der geistigen Erhebung, des Glücks und der Ehrfurcht hervorruft. Es gibt keine unreligiösen Menschen, alle Men schen sind religiös, aber der Gegenstand ihrer Religiosität kann sich sehr vom Glauben an Gott unterscheiden. Die Religiosität, die durch etwas viel Niedrigeres als die Spiegelungen des Göttlichen in einer wahrhaft gläubigen Seele verursacht wird, nennt Iljin „nicht geistig“. In den literarischen Ergänzungen zum zweiten Kapitel der Axiome stellt der Philosoph fest: „Im Durst nach Vollkommenheit (Gott) und Vervollkommnung (Frömmigkeit) sehe ich die wesentliche Quelle der geistigen Religiosität, und die nicht geistige Religiosität hat immer an dere, weniger hohe und edle Quellen gehabt und wird immer andere haben.“ In einer frühen Rezension von Schleiermachers Buch
Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern betont Iljin, dass Schleiermacher aus der Position eines Philosophen-Forschers heraus alle Erscheinungsformen von Religiosität als gleichwertig an erkennt, dass es aber eine solche Anerkennung von Seiten des Gläubi gen, der von seiner eigenen religiösen Erfahrung besessen ist, nicht ge ben kann – daher besteht die Aufgabe der Religionsphilosophie darin, den richtigen Weg zu finden, um die Positionen des Philosophen und die Position des Gläubigen miteinander zu versöhnen. Nachdem Iljin einen solchen Weg für die Religionsphilosophie skizziert hat, versucht er selbst, diese Versöhnung herbeizuführen, indem er die Kriterien der geistigen, wahren Religiosität einführt und auf die Existenz einer „re ligiösen Methode“ hinweist, mit der wir die Evidenz des Gegenstands erreichen können. Auf den Seiten der Axiome wird der russische Philosoph über Schleiermacher als einen Denker schreiben, der die Möglichkeit einer wahren „religiösen Methode“ verneint hat, und er betont: „Die Religiosität ist ohne den Aufbau der religiösen Erfahrung unmöglich. Sie ist vor allem die aktive und organisierte Läuterung des individuellen Geistes in seiner Ausrichtung auf Gott“ (S. 187)
[5].
Schon während seines Studiums an der Kaiserlichen Moskauer Universität war Iljin sehr besorgt über die Krise, die sich in der Philosophie und damit in allen Geisteswissenschaften abzeichnete. Sein In teresse an Hegel, das nach der Lektüre der Phänomenologie des Geistes geweckt wurde, seine Vorliebe für die Methode von E. Husserl, dessen Seminare der Philosoph 1911 in Deutschland besuchte, waren mit der damaligen Suche nach einem Ausweg aus der tiefsten Krise des phi losophischen Denkens verbunden. Iljin verstand die Phänomenolo gie Husserls jedoch nicht als ein neues Wort in der Philosophie – der Denker fand die Anwendung der phänomenologischen Methode bei den Philosophen der Antike und den Ostkirchenvätern.
Besonderes Augenmerk legt Iljin auf den Begriff „Erfahrung“, der im Zeitalter der Dominanz des Positivismus in der Philosophie in der Regel nur mit empirischer Erfahrung in Verbindung gebracht wurde. Die Kategorie „individuelle geistige Erfahrung“, die uns auf den Seiten der Axiome immer wieder begegnet, impliziert dagegen sowohl den Prozess als auch das Ergebnis der menschlichen Erkenntnis von nicht materiellen, übersinnlichen Dingen, Gegenständen. Niemand kann jemals einem anderen genau seine eigenen „geistigen Erfahrungen“ vermitteln, daher sind sie immer zutiefst persönlich und subjektiv. Doch das bedeutet keineswegs „unobjektiv“ im Sinne von „nur meine Meinung“, sondern sie haben einen Zugang zur Wahrheit. Vielleicht ist das der Grund, warum einige „Gottsucher“ wie N. A. Berdjajew, F. A. Stepun, A. D. Obolenskij Iljins Reden hörten, in denen er die Notwendigkeit der Reformation in Bezug auf den persönlichen Glau ben, den persönlichen Aspekt des Glaubens, betonte: „Mein Glaube ist nicht dein Glaube“ – verwirrt waren, Iljin als Protestant einstuften und ihm Unglauben vorwarfen.
Die im Wesentlichen christliche Anthropologie dieses russischen Philosophen ist durch dasselbe gekennzeichnet wie die orthodo xe Askese – Iljin verweist auf die dreiteilige Zusammensetzung des menschlichen Wesens: Körper, Seele, Geist – und jede dieser drei Komponenten impliziert eine entsprechende Art von Erfahrung. Wir können materielle oder immaterielle (geistige) Gegenstände aufgrund der Tatsache erkennen, dass wir ein entsprechendes „Erkenntnisor gan“ besitzen, das eine vorherige „Einstimmung“ erfordert. In einem frühen Artikel „Philosophie als geistiges Schaffen“ versucht Iljin, die Methode der Philosophie zu rechtfertigen und darauf hinzuweisen, dass Philosophie zu betreiben bedeutet, die eigene geistige Erfahrung zu kultivieren und ihr einen Sinn zu geben, indem man den blinden Instinkt, das psychische „Mein Weg“, „Ich will“ und „das Angeneh me“ reduziert. Schon der Vergleich der Philosophie mit „geistigem Schaffen“ verweist uns auf die asketische Tradition der Orthodoxie, in der das „geistige Schaffen“ als eine besondere Methode der Gotteser kenntnis verstanden wird und die Erfahrung der Gotteserkenntnis für jeden Asketen oder Heiligen zutiefst persönlich ist, worauf Iljin in sei nen Axiomen immer wieder aufmerksam macht. „Geistige Nüchtern heit“ bedeutet im weitesten Sinne des Wortes die Beherrschung von Einbildungskraft, Instinkt, Gefühl, Wille, die neben dem Verstand und dem Herzen ebenfalls in den Erkenntnisprozess einbezogen sind, aber geläutert werden müssen, um den Gegenstand richtig wahrneh men zu können. Gleichzeitig unterscheidet sich der Begriff der „Ver nunft“ von der separaten und neuzeitlich gehobenen menschlichen Eigenschaft des logisierenden Verstandes, indem die nicht säkular ori entierte Vernunft „gegenständlich aus der geistigen Erfahrung heraus betrachtet“ wird.
Die Möglichkeit, Objektivität, Wahrheit durch persönliche Erfah rung zu erreichen, wird durch Iljins philosophischen Begriff „Gegen ständlichkeit“ bedingt, der, wie einige russische Forscher zu Recht festgestellt haben, durchaus mit E. Husserls Kategorie des „Intentio nalität“ vergleichbar sein kann. Der Unterschied zwischen Iljins Kon zept und Husserls phänomenologischer Position besteht jedoch darin, dass Iljin nicht nur an der intentionalen Ausrichtung und Konzent ration des Bewusstseins auf den Gegenstand interessiert ist, sondern auch an der Fähigkeit, das Wichtigste und Wesentlichste im Gegen stand, sein Wesen, zu erkennen, wenn man sich an Gott und nicht an sein eigenes Ich wendet. Man kann sogar sagen, dass der Philosoph unter „Gegenständlichkeit“ die philosophische Operation der getreu en, angemessenen Entdeckung des göttlichen Plans des Gegenstands in sich selbst durch individuelle Prüfung, durch Aufnahme eben dieses Gegenstands in die eigene Seele versteht. Mit anderen Worten, es ist notwendig, ihn (den Gegenstand) zu analysieren, geläutert von willkürlichen subjektiv-psychischen Zusätzen, d. h. von dem, was „ich gerne sehen würde“. Der in die „Seele“
[6] aufgenommene Gegenstand muss „über sich selbst sprechen“. Philosophie und Religion, so der Denker, arbeiten mit dem, was er als „geistige Erfahrung“ bezeichnet. In dieser Hinsicht ist die wahre Philosophie in ihrem Wesen bereits Religion und umgekehrt. Die unter einem gemeinsamen Titel veröf fentlichten Artikel (
Die religiöse Bedeutung der Philosophie: drei Reden 1914-1923) sind durch Iljins Hinweis verbunden, dass die geistige Er fahrung, mit der Priester, Künstler und Philosophen arbeiten müssen (sonst entsprechen sie nicht ihrem Titel), unmittelbar eine religiöse Erfahrung ist, die einer ständigen Überprüfung (religiöser Zweifel) und Läuterung bedarf.
In Bezug auf die Frage der religiösen Autonomie und Heterono mie, die Hegel seinerzeit Schwierigkeiten bereitete, betont Iljin, dass die Autonomie des Subjekts eine unverzichtbare Bedingung auf dem Weg des geistigen Wachstums ist, aber sie verhindert nicht die an fängliche Akzeptanz der Postulate der religiösen Autoritäten, die durch persönliche Erfahrung geprüft werden müssen. Gleichzeitig bedeutet die Autonomie keinen Bruch mit der Kirche, die ihre be sonderen Gaben in das Leben des Suchenden nach wahrer religiöser Erfahrung einbringt, sondern jenes obligatorische Mindestmaß an Freiheit bietet, das für die Kultivierung eines geistigen Lebens, eines eigenen religiösen Inhalts, notwendig ist, der nach einer unmittelba ren Wahrnehmung des Gegenstands streben muss. „Subjektivität“ und „Autonomie“ sind die beiden Säulen der wahren Religiosität; die „religiöse Ganzheitlichheit“ der geistigen Erfahrung (einschließlich Herz, Instinkt, Gewissen, Wille), die „religiöse Aufrichtigkeit“, die die Herausbildung eines religiösen Charakters im Menschen voraussetzt, in dem das ganze Leben mit seinem Glauben in Einklang gebracht wird und der Mensch in jeder Schwierigkeit des Lebens „die Feuer des individuellen Lebens“ zu sehen lernt – dies alles zusammen bildet das, was man nach Iljin „die Axiome der religiösen Erfahrung“ oder „die Anthropologie des Glaubens“ nennen könnte.
Über die untrennbare Verbindung zwischen geistiger Erfahrung und Charisma, Hierarchie (göttlich-menschlich) und die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte: In diesem Zusammenhang taucht das Konzept des „geistigen Ranges“ in der einen oder anderen Weise in einer Reihe von Werken des russischen Denkers auf und geht auf einige der Ideen zurück, die von T. Carlyle in seinem Buch On He roes, and Hero-Worship, and the Heroic in History skizziert wurden, was heutzutage falsch interpretiert wird. Es ist anzumerken, dass das vorrevolutionäre russische sozialphilosophische und soziologische Denken auch dadurch gekennzeichnet war, dass es mehr oder weniger die Rolle einzelner Persönlichkeiten anerkannte, die den Lauf der Ge schichte veränderten und die Menschen zu großen Taten und Leistun gen im Namen der Verwirklichung hoher, entwickelter sozialer und moralischer Ideale anregten (die Konzepte von N. K. Michailowski, P. L. Lawrow, P. I. Nowgorodzew und sogar G. W. Plechanow). Sol che Menschen kann man als Genies in dem Bereich bezeichnen, in dem sie sich bewährt haben. Nach Iljin besteht ein großer Unterschied zwischen einem Genie, das sich fast ständig im geistigen Pleroma [griech.:
πλήρωμα (pléroma) –„Fülle“] befindet, und einem begabten Menschen. Dabei können die Ansätze des Genies in jedem Menschen schlummern, und nur bei einigen Menschen manifestieren sie sich deutlich über ihren Willen und ihre Bemühungen hinaus. Ein Genie ist unfähig, Schurkerei zu begehen, obwohl es nicht frei von Sünde ist, weil seine geistige Erfahrung wahrhaft religiös ist; ein begabter Mensch kann leicht ins Vulgäre abrutschen, wenn der Mensch nur auf der Seelenebene verhaftet ist. Denn nach Iljin ist Talent eine Eigen schaft, die eher der Seele als dem Geist eigen ist. Oft wächst das Talent nicht auf die geistige Ebene hinauf und entwickelt sich nicht zum Genie, weil der Sinn für das Göttliche im Bewusstsein des Menschen unzureichend ist, was bei einem genialen Menschen das Verantwor tungsgefühl für seinen Dienst und ein wachsames Gewissen fördert. Solche, auf diesen Gefühlen basierenden Gedanken und Handlungen eines Genies können andere Menschen nicht gleichgültig lassen, – die Handlungen eines Genies erwecken unsichtbar religiös lebende Seelen und helfen ihnen selbst, den Weg wahrer Religiosität zu gehen. Der Begriff des „geistigen Ranges“ stellt die Grundlage der Religiosität dar und impliziert, dass der Mensch das verehrt, was vollkommener ist und über seinen natürlichen Begrenzungen im geistigen Sinne steht – er wird dem höchsten Gegenstand, Gott, unterworfen. Ausgehend von dieser Erkenntnis der eigenen Unbedeutsamkeit in der Welt kann der Weg zum Erwerb religiöser Erfahrungen erst beginnen, der den indi viduellen Geist entzündet und den Menschen auf den Weg der stän digen Selbstvervollkommnung führt. So entfalten sich nach Iljin die Axiome der religiösen Erfahrung auf einer sozio-historischen Ebene.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß, aber andere wissen es auch nicht“ – so soll laut Platon der große Weise Sokrates über sich selbst gesagt haben, der glaubte, dass Tugend nur durch persönliche Erfahrung erlernt werden kann. Iljin war sich seiner Grenzen bewusst, und so nannte er sich im Gegensatz zu einigen seiner „unwissenden“ Zeit genossen nie „
Theo-σοφ“ [griech.: „
θεός“ (Theos) – Gott, „
σοφός“ (sophos) – weise, also: „
Theo-σοφ»“, „Gottesweiser“], sondern zog es vor, „
Theo-mōrē“ [griech.: „
μωρός“ (moros) – „töricht“, also: „
Theo mōrē“, „Gottestörichter“] zu sein. Es ist dieser Geist der asketischen Bescheidenheit, der seine Studie durchdringt, und es lohnt sich, sich anhand des Vorworts des Autors damit vertraut zu machen.
Alexandra Vakulinskaja
[1] Es gelang nicht sofort, die Arbeit zu veröffentlichen. Ursprünglich hatte Iljin nach langem, schwerem Nachdenken auf Empfehlung des Oberhaupts der Russischen Auslandskirche, Vater Anastasius (Gribanowski), das Manuskript an den Verlag YMCA-Press geschickt, mit dem einige russische Denker, die den ökumenischen Ideen positiv gegenüberstanden, eng zusammenarbeiteten (zum Beispiel Mutter Maria (Skobtsova), N. A. Berdjajew, W. N. Iljin, B. P. Wyscheslawtsew und andere). Nachdem jedoch die Veröffentlichung abgelehnt wurde, atmete Iwan Iljin erleichtert auf, da seine Gewissensqualen gelöst waren. Nach Vermutungen des Theologen und Historikers der russischen Kirche, A. W. Kartaschew, mit dem Iljin in Kontakt stand, lehnte YMCA-Press den Philosophen nicht nach der Lektüre des Buches ab, sondern lediglich aufgrund der Tatsache, dass Iljins Ruf als Philosoph durch Verleumdungen von N. A. Berdjajew (der zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben war) beschädigt war. Wie durch ein Wunder wurde Iljins zweibändige Untersuchung dank des Engagements des russischen Mäzens W. P. Rjabuschinski veröffentlicht.[2] „Philosophie als geistiges Schaffen“ (1914), „Philosophie und Leben“ (1918), „Über die Wiederbelebung der philosophischen Erfahrung“ (1923).[3] Das Buch erschien 1925 dank der Hilfe des Philosophen N. A. Berdjajew in der YMCA-Presse; finanzielle Schwierigkeiten zwangen I. A. Iljin, sein Material an ei nen ökumenischen Verlag abzugeben, den der Philosoph mit Misstrauen betrachtete. [Deutsche Übersetzung o. O., 2025; A. K.].[4] Tatsächlich wurde dieses Buch 1919 in Moskau im Wesentlichen fertig gestellt, aber wegen des bolschewistischen Putsches in Russland wurden nur die ersten zehn Kapi tel in der Druckerei der Rjabuschinskis veröffentlicht.[5] In I. A. Iljin, Die Axiome der religiösen Erfahrung, Moskau, 2002 (http://www.odinbla go.ru/filosofiya/ilin/ilin_aksiomi/) – die Vorlage der vorliegenden Übersetzung des Buchs.[6] Hier impliziert dieser Begriff neben dem Bewusstsein (der Vernunft) die Einbezie hung des Herzens, der Vorstellungskraft, des Willens und des Instinkts in den Prozess des Erkennens.